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Ein Beitrag von Birgit Mandel, Institut für Kulturpolitik Universität Hildesheim (gekürzte Version)
Im Kulturbereich wird seit einiger Zeit intensiv über die Auswirkungen des demografischen Wandels und insbesondere den zunehmenden Anteil von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte diskutiert. Weitgehend einig ist man sich darüber, dass Kunst und Kultur mit ihrem Potential zum utopischen Denken und spielerischem Probehandeln in besonderer Weise geeignet seien, integrativ zu wirken und Gemeinsames zu entdecken und neu zu schaffen. Zugleich aber zeigen die verschiedenen Bevölkerungsbefragungen zur Kulturnutzung, dass vor allem die öffentlichen Einrichtungen nur von einer kleinen Bevölkerungsgruppe aus sozial gehobenen und gebildeten Milieus regelmäßig wahrgenommen werden.
Wie können Kultureinrichtungen zu Orten werden, die für verschiedene gesellschaftliche Gruppen relevanter Bestandteil ihres Lebens und Treffpunkt sind? Wie kann es ihnen gelingen, Menschen unterschiedlicher Bildung, unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher sozialer Herkunft, Menschen mit und ohne Migrationserfahrung zu erreichen, um repräsentativer für die sich immer weiter diversifizierende Gesellschaft zu werden? Wie können Kultureinrichtungen zu partizipativen und interkulturellen Orten werden, die dazu beitragen, Brücken zu bauen zwischen unterschiedlichen Gruppen?
DAS MODELLPROJEKT INTERKULTURELLES AUDIENCE DEVELOPMENT IN SIEBEN KULTUREINRICHTUNGEN IN NORDRHEIN-WESTFALEN
Um auf diese Fragen Antworten zu finden, hat das Kulturministerium des Landes NRW Kunstfördermittel aus dem Bereich interkulturelle Kunst- und Kulturarbeit für sieben große, renommierte, öffentlich geförderte Kultureinrichtungen und die Zukunftsakademie NRW – Interkultur Kulturelle Bildung und Zukunft von Stadtgesellschaft (ZAK NRW) begleitende Forschungsmittel zur Verfügung gestellt, mit denen neue Ansätze einer bewusst interkulturell angelegten Programmplanung, Kommunikation und Vermittlung erprobt und erforscht wurden. In einem zweijährigen Modellversuch führte jede Institution ein oder mehrere beispielhafte Projekte durch, die mit neuen Zielgruppen und Kooperationspartnern gemeinsam neue interkulturell orientierte Kunstproduktionen und Programme, neue Formate und neue Kommunikationsformen entwickelten.
Das Schauspielhaus Bochum kooperiert mit der Street Art Compagnie Renegade und entwickelt dabei nicht nur verschiedene neue Programme für ein neues Publikum, sondern auch neue ästhetische Formen und Formate, neue Themen und neue interne Arbeitsweisen in Auseinandersetzung mit einem völlig anders organisierten Kunstkollektiv.
Das Junge Schauspielhaus Düsseldorf erprobte verschiedene Formate partizipativer Theaterarbeit durch Outreach Projekte im Stadtteil, die Öffnung ihres Foyers unter dem Namen „Treibhaus“ als Begegnungsort für Kinder und Jugendliche mit Künstlern des Theaters sowie die Entwicklung von Stücken gemeinsam mit Jugendlichen des Stadtteils.
Das Schauspiel Dortmund entwickelte mit „Crash Test Nordstadt“ ein interaktives Stadtspiel, das verschiedene Milieus in der Nordstadt als Akteure und Kenner ihres Stadtteils einbezog und zusammenbrachte mit „Kulturpublikum“ aus anderen Stadtteilen.
Das Theater Oberhausen erstellte mit der „Kleinen Hexe“ in Kooperation mit Lehramtsstudierenden, Kindergärten und Grundschulen ein interaktives, den Spracherwerb förderndes Stück für Kinder ab fünf Jahren und integrierte beim Außenprojekt „Frühlings Erwachen“ in einem Oberhausener Jugendzentrum Lebensrealitäten und Sichtweisen von Jugendlichen in die Aufführung
Das Theater im Revier Gelsenkirchen gestaltete mit Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Schultypen ein Musiktheaterstück „Vision of God“, das sich mit persönlichen Vorstellungen von Religion befasst.
Das Westfälische Landestheater Castrop Rauxel (WLT) lud neun Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Herkunftsländern ein, eigene Stücke für das Theater zu schreiben, und ließ diesen Prozess in regelmäßigen Workshops durch eine Theaterautorin begleiten. Das von einer Jury als bestes ausgewählte Stück wurde zur Uraufführung gebracht.
Das Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln erprobte über zeitgenössische Tanzstücke, die sich mit den Ausstellungsinhalten auseinandersetzen, neue Zugänge und neues Publikum zu den ethnologischen Präsentationen des Museums zu generieren.
Während private Kulturanbieter relativ schnell Trends und Interessen einer sich verändernden Bevölkerung aufgegriffen und daraus neue, nachgefragte Angebote geschaffen haben, fällt es den traditionellen öffentlichen Kultureinrichtungen wie Theater und Museen offensichtlich besonders schwer, sich zu verändern. Diese stehen in einer klassischen Tradition, bewahren einen bestimmten, als hochkulturell und wertvoll definierten Kulturkanon einschließlich damit verknüpfter eher kontemplativer Rezeptionsformen, sie haben einen hohen Anspruch an die künstlerische Qualität ihrer Programme. Das Vorhaben der Landesregierung NRW setzte deshalb genau bei diesen öffentlichen Einrichtungen an, um zu erkunden, unter welchen Bedingungen in einem System mit langen Traditionen und fest gefügten Strukturen neues Publikum, neue Teilnehmer und Akteure interessiert und gebunden werden können.
DAS KONZEPT INTERKULTURELLES AUDIENCE DEVELOPMENT
In den angelsächsischen Ländern wurde hierfür der Begriff „Audience Development“ geprägt.
Audience Development bezeichnet die Generierung und Bindung neuen Publikums für Kultureinrichtungen in der strategischen Kombination von Kulturnutzerforschung, Marketing, PR und Kulturvermittlung.
Der Begriff des Audience Developments legt den Fokus auf die Entwicklung neuen Publikums und suggeriert, dass es darum geht, mit Hilfe geeigneter Maßnahmen, etwa in der Kommunikation, dem Vertrieb, dem Service, der Preispolitik erfolgreicher Aufmerksamkeit und nachfolgend auch Interesse neuer, potentieller Besuchergruppen für die Programme einer Kultureinrichtung zu gewinnen.
Die Evaluationen der „New Audience Development“- Programme in Großbritannien zeigten jedoch: Nur dann, wenn Kulturinstitutionen bereit waren, sich als Ganzes, einschließlich ihrer Programme, zu verändern, gelang es, neues Publikum zu gewinnen und dauerhaft zu binden. Ein Verständnis von Audience Development als lediglich einem Maßnahmenkatalog in Marketing, PR und Vermittlung würde vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen also zu kurz greifen für die Herausforderung, die Kultureinrichtungen in Deutschland repräsentativer für die vielfältiger werdende Bevölkerung zu machen. In einem Interkulturellen Audience Development geht es nicht nur darum, mehr und neues Publikum, z.B. aus den Reihen von Menschen mit Migrationshintergrund zu gewinnen, sondern auch um interkulturelle Veränderungsprozesse von Kultureinrichtungen.
Die Ergebnisse repräsentativer Bevölkerungsbefragungen von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund (v.a. die Sinus Milieu Studie der Landesregierung NRW zu Kulturnutzung und Kulturinteresse in verschiedenen Migrantenmilieus 2010 sowie das Interkulturbarometer 2012) haben gezeigt: Obwohl auch Migrationserfahrung ein Einflussfaktor für kulturelles Interesse ist, verlaufen die Gegensätze weniger zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, sondern zwischen verschiedenen sozialen Milieus, wobei der Faktor Bildung sich als stärkste Einflussgröße erweist. Ein interkultureller Dialog müsste also vor allem die Überwindung sozialer Grenzen schaffen.
Text in voller Länge, detaillierte Ergebnisse der Projektauswertungen, Ergebnisse von Kulturnutzerstudien sowie Strategien und Methoden Interkulturelles Audience Development in: Mandel, Birgit: Interkulturelles Audience Development Zukunftsstrategien für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen. Bielefeld 2013