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Ein Beitrag von Gabriele Wittmann
„Wie soll ich all die Stunden berechnen, in denen ich einem damals noch unbekannten Künstler Feedback gegeben habe – in nächtelangen, zusätzlichen Bühnenproben? “ fragte Elisabeth Schweeger. Die ehemalige Intendantin des Schauspiels Frankfurt traf damit den Kern der Debatte. Mit ihr auf dem Podium saßen damals Direktoren aus der Theater-, der Film- und der Museumsbranche, um auf Einladung des Tanzquartier Wien „die neue Effizienzkultur“ zu diskutieren. Und alle waren sich einig: Kultur darf nicht „durchökonomisiert“ werden, wie es zuletzt Beratungsfirmen in öffentlichen deutschen Kommunen getan hatten. Denn Kulturarbeit hat andere Abläufe, andere Werte, andere Kriterien als die betriebswirtschaftlich durchrationalisierte Warenwelt.
Eine Dekade ist seither vergangen, doch die Diskussion ist immer noch aktuell. Welche Strukturen hinterlässt das global regierende Kapital auf seinen Feldzügen? Verteilungskämpfe in Europa (und weltweit) werden das große gesellschaftliche Thema der nächsten Jahrzehnte sein. Gelingt es dabei, neben der Bereitstellung von Wasser, Nahrung und Wärme auch den kulturellen Zusammenhalt zu fördern? Werden die Menschen wenigstens in homöopathischen Dosen noch Zeit und Raum finden, eigene Eindrücke zu sammeln und sich mit- und füreinander auszudrücken? Oder spitzt sich die Lage so zu, dass das eigene Leben nichts mehr wert erscheint im Verhältnis zu den zu erstreitenden Verhältnissen? Dann wird die Lage auch in Europa noch ernster. Dann entstehen Bürgerkriege, dann schließen sich Menschen marodierenden Terrorbanden an – aus purer Verzweiflung, wie die indische Schriftstellerin Arundhati Roy treffend für den Nordosten ihres Landes analysiert hat.
Auch deswegen ist „Teilhabe“ das Zauberwort unserer Zeit. Es wird darum gehen, Menschen zu engagieren und einzubeziehen in die Idee einer demokratischen Gesellschaft. Ist der Kulturarbeiter also ein Sozialarbeiter, der die Versäumnisse von Wirtschaft und Politik ausgleichen soll? Ja und nein. Kunst hat sich immer schon eingemischt in die Gesellschaft, sichtbar oder als Haltung im Hintergrund. In Zeiten gesellschaftlicher Aufbrüche wird es nur sichtbarer. In den 1960er Jahren beispielsweise war es im Tanz Anna Halprin, die im Kalifornien der 1960er Jahre Schwarze und Weiße Bürger in ihr Studio lud, um gemeinsam eine Tanzproduktion zu entwickeln. „Gemeinsam“ ist jedoch nur möglich, wenn überhaupt „jemand zu Hause ist“, wie die Choreographin die individuelle Selbstwahrnehmung nennt. Deswegen arbeitete sie damals mit beiden Gruppen getrennt für ein halbes Jahr, bevor sie alle zusammenbrachte. „Jeder Mensch ist anders, und jeder bewegt sich anders“, so ihr Credo – und auch Kulturen und ihre Sub-Gruppen bewegen sich anders: Frauen, Männer, Hispanos, Puerto-Ricaner, Weiße.
Heute sind Partituren für Bewegungsaktivitäten in der zeitgenössischen Performance immer noch – oder wieder – aktuell, denn die Freiheit für individuelle Ausgestaltung ist am Größten, bei Beibehaltung eines sich entwickelnden Gruppenprozesses. Das wird auch noch für Jahre so bleiben, denn es ist nötig, Erfahrungsräume für Menschen in Zeiten zunehmender Migration zu entwickeln. Choreographen übernehmen dabei verstärkt gesellschaftliche Aufgaben. Das ist gut so. Trotzdem gilt es, wachsam zu sein und die Kunst nicht nur zweckbehaftet zu definieren. Schließlich ist das eine der historisch einzigartigen und grundlegenden Errungenschaften in Deutschland: Die Freiheit der (durch die Allgemeinheit finanzierten) Kunst.
Zu den zu verteidigenden Rechten gehört auch die Freiheit publizierter Kritik. Noch sind wir in Deutschland froh über die Errungenschaft einer „vierten Macht“ im Staat: einer im Verhältnis zu totalitären Staaten freien Presse. Doch die Medien befinden sich ebenfalls in der Effizienzfalle großer Konzerne. Wie viel Kritik verträgt die Demokratie? Hier gilt es, den Journalismus als erlernten Beruf auch in Online-Zeiten zu verteidigen und die Ausbildung zu stärken. Bereits vor Jahren konstatierte die Medieninitiative „Netzwerk Recherche“, dass die meisten Journalisten heute von der PR leben. Wer überprüft diese PR-Maschinerie? Wollen wir eine Gesellschaft, in der kritische Information als Basis einer demokratischen Gesellschaft noch vorkommt? Dann gilt es, solche Initiativen künftig zu unterstützen.
Wie viel Kritik verträgt der internationale Kulturaustausch? Während Gayatri Spivak’s Aufsatz „Can the subaltern speak?“ in Universitätsbibliotheken stets ausgeliehen ist, gehen die letzten Ausverkäufe an den Markt: Nun ist es die Industrie der „Wissensgesellschaft“, die in Deutschland nicht nur Ideen, sondern auch pädagogische Konzepte als weltweit zu vermarktende Waren definiert. E-Learning und Webinare ermöglichen heute das ortsunabhängige Lernen vom eigenen Schreibtisch aus. Das eröffnet eine breitere Nutzung und günstigere Bereitstellung. Doch Bildung darf nicht zu einer bloßen Ware degradiert werden. Denn die Adressaten sind – frei nach dem Kommunikationsforscher Schulz von Thun – immer noch Menschen, die unterschiedliche Ohren für unterschiedliche Bedürfnisse haben. Das Erspüren einer Stimmung beim Betreten eines Seminarraumes ist durch nichts zu ersetzen: Bildung als lebendiger, zwischen Individuen und der Umwelt immer wieder neu und live ausgehandelter Prozess – das wäre eine tragende, eine nachhaltige Definition von Bildung. Dabei werden in Zukunft auch künstlerische Prozesse in Bildungsaufgaben stärker eine Rolle spielen. Denn das Einbeziehen von Kreativität und kritischer Reflektion ermöglichen ein rasches und wendiges, aber auch weitsichtiges und verantwortungsbewusstes Verhalten in Entscheidungsprozessen: Nachhaltigkeit im gemeinsamen Handeln mit- und füreinander.
Deutschland hat es (noch) vergleichsweise gut. Doch die Kämpfe werden härter – und die in Europa angeordneten Sparhaushalte werden bis 2020 auch deutsche Länder und Kommunen treffen. Dann werden wieder ewige Fragen gestellt: „Wie lässt sich das noch finanzieren?“ oder „Ist Kultur nicht bloßer Luxus?“ Dann wird es wieder Zeit, sich zu erinnern: Nein, Kultur ist kein Luxus. Es verhält sich genau umgekehrt. Die kulturelle Geschichte der Menschheit umfasst mehrere Jahrtausende. Die Idee des Handelns ist relativ jung, die Idee des Handel treibenden monetären Wirtschaftens sogar erst im Mittelalter entstanden. Die Denklinien, die derzeit in den Wirtschaftswissenschaften vermittelt werden, sind also durchaus nicht alternativlos. Um es mit dem kritischen Ökonomen Peter Bendixen zu sagen: Die Kultur ist Grundlage der Wirtschaft, nicht umgekehrt.
Gabriele Wittmann schreibt seit zwanzig Jahren als freie Journalistin für Hörfunk, Print und Fernsehen (Deutschlandfunk/ NDR/ taz/ Die Woche/ ZDF3sat). Als Publizistin und Fachautorin für Tanz hält sie Gastvorträge und gibt Workshops im In- und Ausland, u.a. in den USA, China und Indien. Als Dozentin und Trainerin unterrichtet sie Seminare rund um das Thema „Schreiben“, als Wissenschaftlerin entwickelt sie das internationale Curriculum zwischen Theorie und Praxis Creative Scientific Writing an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main.
Ich glaube nicht, das es nur im Kunst- und Kulturbereich Situationen gibt, in denen jemand einer anderen Person kostenlose Ratschläge oder Feedback gibt. Daher bezweifle ich, dass so eine Situation die These unterstützt, die Kultur dürfe nicht durchökonomisiert werden.
Angesichts der finanziellen Not, in der sich viele Kulturbetriebe und KünstlerInnen befinden, bin ich mir auch nicht sicher, ob es klug ist, im Kunst- und Kulturbereich so ganz auf die Ökonomie zu verzichten. Nachdem wir in einer Gesellschaft leben, die schon ziemlich durchökonomisiert ist, bedeutet das: Auch wer im Kunst- und Kulturbereich arbeitet, unterliegt ökonomischen Zwängen, schließlich wollen das Dach über dem Kopf und das täglich Essen finanziert sein.
Ich stimme zu, dass der künstlerische Impuls nicht unbedingt ökonomischen Zwängen unterliegen muss, wobei das vermutlich öfter der Fall ist als wir glauben. Aber ohne unternehmerisches Denken kommen heute weder KünstlerInnen noch Kulturbetriebe aus.
Mein Beitrag zielte auch nicht darauf ab, Kulturschaffenden ihre Honorare zu entziehen. Im Gegenteil: Es ging mir eher darum, eine kritische Distanz zu kräftigen gegenüber mitreißenden modischen Initiativen, deren Motivationen nicht immer transparent sind. Und die allzu leicht mit gefährlichen wirtschaftspolitischen Instrumentarien verflochten werden. Ein Beispiel ist die deutsche Theaterlandschaft, über deren Subsidierung zuletzt viel gestritten wurde: Aus dem jungen Zweig des Kulturmanagements kamen Vertreter, die sich mit Recht eine zeitgenössische und gesellschaftlich relevante Kunst wünschten – aber dafür die städtischen Theater mit ihren wenigen noch vorhandenen arbeitsrechtlichen Strukturen attackierten. Für die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger wiederum streitet Hans Herdlein als deren Vorsitzender seit Jahrzehnten in auszeichnungswürdigen Kolumnen dafür, diese Strukturen überhaupt noch zu erhalten.
Klar ist: Diese zwei Richtungen müssen sich verständigen, denn nur so bleiben die verfeindeten Positionen – und auch Generationen – im Gespräch. Zu schnell könnte die über Jahrhunderte mühevoll aufgebaute Theaterlandschaft abgebaut werden, wenn dieser Friede nicht gelänge – und wieder einmal würde die Kultur mit dem Abbruch ihrer Geschichte und Strukturen ihren Stellenwert einbüßen. Und das kritische Theater schneller verschwinden als wir ihm hinterherschauen können.
In der Zeitschrift „Tanz“ erscheint demnächst (in der August-Ausgabe) dazu ein längeres Essay zum Thema „Abbau der Kritik“ – und was wirtschaftliche Initiativen wie beispielsweise die Bertelsmann Stiftung damit zu tun haben.